Risikotragsähigkeit Risikodeckungsmasse Banking
Compliance & Governance
Risikotragsähigkeit
MaRisk
Risikomanagement

Risikotragsähigkeitsrechnung nach MaRisk: Methoden und praktische Umsetzung

Detaillierter Leitfaden zur Risikotragsähigkeitsrechnung für Banken: Barwert-, Periodenerfolgs- und Going-Concern-Ansatz nach MaRisk AT 4.1.

BanktrackPRO Team
5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 4.11.2025
Teilen:

Einleitung

Die Risikotragsähigkeit (RiskBearing Capacity) ist ein Kernkonzept des MaRisk-Risikomanagements. Sie stellt sicher, dass Banken nur solche Risiken eingehen, die sie mit ihrem verfügbaren Risikokapital tragen können. Die BaFin verlangt eine regelmäßige, methodisch fundierte Risikotragsähigkeitsrechnung (RTF-Rechnung).

Konzeptionelle Grundlagen

Definition

Risikotragsähigkeit liegt vor, wenn:

  • Die Risikodeckungsmasse (verfügbares Kapital) >= Risikodeckungsbedarf (aggregierte Risiken)
  • Nach Eintritt aller modellierten Risiken das Institut überlebensfähig bleibt
  • Regulatorische Mindestkapitalanforderungen jederzeit erfüllt sind

Regulatorische Anforderungen

MaRisk AT 4.1:

  • Ermittlung der Risikodeckungsmasse
  • Quantifizierung wesentlicher Risiken
  • Aggregation der Risiken unter Berücksichtigung von Diversifikation
  • Gegenüberstellung von Deckungsmasse und Risiken
  • Stresstests und Szenarioanalysen
  • Mindestens jährliche Durchführung

Perspektiven der Risikotragsähigkeit

Going-Concern-Perspektive

Ziel: Fortführung des Geschäftsbetriebs

Risikodeckungsmasse:

  • Haftendes Eigenkapital (CET1, AT1)
  • Stille Reserven (Bewertungsunterschiede)
  • Nachrangige Verbindlichkeiten (teilweise)
  • Minus regulatorische Mindestkapitalanforderungen
  • Minus Puffer (Kapitalerhaltungs-, CCyB-Puffer)

Betrachtungshorizont: 1 Jahr

Gone-Concern-Perspektive (Liquidation)

Ziel: Ordnungsgemäße Abwicklung und Gläubigerschutz

Risikodeckungsmasse:

  • Liquidationswert der Aktiva
  • Stille Reserven vollständig
  • Minus Verbindlichkeiten

Betrachtungshorizont: Abwicklungszeitraum (variabel)

Methoden der Risikotragsähigkeitsrechnung

1. Barwertansatz (präferiert)

Konzept:

  • Bewertung zu beizulegenden Zeitwerten (Fair Value)
  • Stille Reserven werden berücksichtigt
  • Ökonomische Sichtweise

Risikodeckungsmasse:

RDM = Eigenkapital (buchmäßig)
      + Stille Reserven
      + Ergänzungskapital
      - Immaterielle Vermögenswerte
      - Regulatorische Abzugspositionen
      - Mindestkapitalanforderungen (CET1 + Puffer)

Vorteile:

  • Realitätsnähere Abbildung der Kapitalsituation
  • Einbeziehung von Bewertungsreserven
  • Frühzeitigere Risikosignale

Nachteile:

  • Volatilität durch Marktwerte
  • Komplexere Bewertung
  • Datenqualität kritisch

2. Periodenerfolgsansatz

Konzept:

  • Begrenzte Verlusttragfähigkeit im laufenden Geschäftsjahr
  • Fokus auf GuV-Positionen

Risikodeckungsmasse:

RDM = Geplanter Jahresüberschuss
      + Risikovorsorge (Kreditrisiko)
      + Verwaltungsaufwand (reduzierbar)
      + Stille Reserven (realisierbar)

Anwendung:

  • Ergänzend zum Barwertansatz
  • Kurzfristige Steuerung
  • Verknüpfung mit Budgetierung

Quantifizierung der Risiken

Wesentliche Risikoarten

RisikoartMessmethodeKonfidenzniveauBetrachtungshorizont
AdressenausfallInternal Ratings, Expected Loss99,9%1 Jahr
MarktpreisValue-at-Risk, Sensitivitäten99,0%1 Jahr
ZinsänderungBarwertänderung, Duration Gap99,0%1 Jahr
LiquiditätLiquidity-at-Risk99,0%1 Monat / 1 Jahr
OperationellAMA, Standardansatz99,9%1 Jahr

Value-at-Risk (VaR)

Definition: Der maximale Verlust, der mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit (z.B. 99%) in einem definierten Zeitraum nicht überschritten wird.

Berechnung:

  • Historische Simulation: Basierend auf vergangenen Preisbewegungen
  • Varianz-Kovarianz-Ansatz: Normalverteilungsannahme
  • Monte-Carlo-Simulation: Stochastische Modellierung

Kritik:

  • Tail-Risiken werden unterschätzt
  • Keine Aussage über Verlust im Extremfall
  • Ergänzung durch Expected Shortfall (ES) empfohlen

Aggregation von Risiken

Diversifikationseffekte

Korrelationen zwischen Risikoarten:

  • Adressrisiko vs. Marktrisiko: 0,3-0,5
  • Zinsrisiko vs. Kreditrisiko: 0,4-0,7
  • Operationelle Risiken: meist unkorreliert

Aggregationsformel (Varianz-Kovarianz):

Gesamt-VaR² = Σ VaR_i² + 2 * Σ Σ ρ_ij * VaR_i * VaR_j

Methoden:

  • Einfache Addition: Konservativ, keine Diversifikation
  • Korrelationsmatrix: Standard-Ansatz
  • Copula-Ansätze: Komplexer, tail-dependencies

Herausforderungen

  • Datenverfügbarkeit: Historische Korrelationen instabil
  • Tail-Dependence: In Krisen brechen Diversifikationseffekte zusammen
  • Modellrisiko: Fehlspezifikation der Abhängigkeiten

Stresstest und Szenarioanalysen

Reverse Stresstests

Konzept:

  • Ausgangspunkt: Kapitalverzehr bis zur Insolvenz
  • Rückwärts: Welche Szenarien führen dazu?
  • Identifikation von Vulnerabilitäten

Nutzen:

  • Extremrisiken identifizieren
  • Diversifikationsillusion aufdecken
  • Notfallplanung

Szenario-Analysen

Makroökonomische Szenarien:

  • Basisszenario: Erwartete Entwicklung
  • Stressszenario: Rezession, Zinsschock
  • Extremszenario: Systemkrise, Pandemie

Bankenspezifische Szenarien:

  • Ausfall größter Kreditnehmer
  • Massenabhebungen (Bank Run)
  • Cyber-Attacke
  • Reputationsschaden

Limite und Steuerung

Limitstruktur

Gesamtbanklimit:

  • Obergrenze für aggregierte Risiken
  • Z.B. 80% der Risikodeckungsmasse
  • Verbleibende 20% als Risikopuffer

Risikoartenlimite:

Beispiel für große Regionalbank:
- Kreditrisiko: 60% (größte Position)
- Zinsrisiko: 25%
- Marktpreisrisiko: 10%
- Operationelle Risiken: 5%
Summe vor Diversifikation: 100%
Nach Diversifikation: ~80%

Sub-Limite:

  • Branchen (Kreditrisiko)
  • Länder
  • Laufzeitbänder (Zinsrisiko)
  • Einzelgeschäfte

Eskalationsprozesse

Warnschwellen:

  • Grün: < 70% Auslastung - Business as usual
  • Gelb: 70-85% - Intensivierte Überwachung, Berichterstattung
  • Orange: 85-95% - Genehmigungspflicht Geschäftsleitung
  • Rot: > 95% - Neugeschäftsstopp, Risikoreduktion

Berichterstattung

Inhalte des RTF-Berichts

  1. Executive Summary
  2. Risikodeckungsmasse (Entwicklung, Zusammensetzung)
  3. Risikodeckungsbedarf (je Risikoart)
  4. Gegenüberstellung (Auslastungsgrade)
  5. Limitüberwachung
  6. Stresstestergebnisse
  7. Maßnahmen bei kritischen Auslastungen

Frequenz

  • Geschäftsleitung: Monatlich
  • Aufsichtsrat: Quartalsweise
  • BaFin: Im Rahmen SREP / ICAAP (jährlich)

Integration mit ICAAP/ILAAP

ICAAP (Internal Capital Adequacy Assessment Process)

Zusammenhang:

  • RTF-Rechnung ist Kernstück des ICAAP
  • ICAAP umfasst zusätzlich:
    • Kapitalplanung (mehrjährig)
    • Szenarioanalysen
    • Verwendungsrechnung (Capital Allocation)

ILAAP (Internal Liquidity Adequacy Assessment Process)

Liquidity-at-Risk:

  • Analoges Konzept zur RTF für Liquidität
  • Gegenüberstellung: Liquidity Buffer vs. Liquidity Stress

Praktische Umsetzung

Systemlandschaft

Anforderungen:

  • Integration von Quelldaten (Core Banking, Treasury, Risk)
  • Risikoaggregation in Echtzeit
  • Simulationsfähigkeit (Szenarien)
  • Reporting-Funktionalität

Anbieter:

  • SAP Risk Management
  • Oracle Financial Services Analytical Applications (OFSAA)
  • SAS Risk Management
  • Moody's RiskFoundation

Datenqualität

Herausforderungen:

  • Granularität der Daten (Einzelgeschäft vs. Portfolio)
  • Konsistenz über Risikoarten hinweg
  • Aktualität (Near-time für Limite)

Best Practices:

  • Data Governance Framework
  • Automatisierte Plausibilitätschecks
  • Regelmäßige Datenqualitätsberichte

Fazit

Die Risikotragsähigkeitsrechnung ist unverzichtbarer Bestandteil eines modernen Bankrisikomanagements. Sie erfordert methodisches Know-how, robuste IT-Systeme und hochqualitative Daten. Ein gut kalibriertes RTF-System schützt die Bank vor Überforderung, ermöglicht optimale Kapitalallokation und schafft Transparenz für Management und Aufsicht.

BanktrackPRO Team

BanktrackPRO Team

Redaktion

Das BanktrackPRO Redaktionsteam besteht aus Finanzexperten und Datenanalysten, die sich auf deutsche Bankprodukte und Zinsentwicklungen spezialisiert haben.

Verwandte Artikel

Teilen: